Eigentlich hat Josef, der Zimmermann aus Nazareth, als Heiliger eine beispiellose Karriere gemacht. Er ist Schutzheiliger einer ganzen Reihe von Ländern und Regionen der Welt, Schutzpatron der gesamten katholischen Kirche, der Ehepaare und Familien, der Kinder, der Sterbenden, der Arbeiter ...
Und trotzdem ist es ihm gelungen, als Person dabei so bescheiden im Hintergrund zu bleiben, dass uns seine herausragende Stellung unter den Heiligen meist gar nicht bewusst ist - nicht einmal, dass ihm im 20. Jahrhundert mehr Kirchen geweiht wurden als jedem anderen Heiligen, Maria ausgenommen.
In der Weihnachtsgeschichte, ob wir sie lesen oder in Bildern betrachten, achten wir mehr auf Maria, das Kind, die Engel, die Weisen. Und sogar die Hirten bekommen mehr Aufmerksamkeit von uns als Josef. Josef steht nicht im Mittelpunkt. Doch er ist da und hat sich wie selbstverständlich in den Dienst der ihm zugedachten Aufgabe gestellt. Auf den ersten Blick erscheint er als praktischer Mensch: In einem volkstümlichen Weihnachtslied wird er von Maria gebeten, ihr beim Wiegen des Kindes zu helfen. Auf mittelalterlichen Altarbildern, die die Geburt Christi zeigen, hält er eine Kerze. Man sieht ihn kochen, und bei Hieronymus Bosch wäscht er die Windeln des Kindes. Auch sein Beruf als Zimmermann, als Bauhandwerker, deutet zuerst einmal auf den praktisch tätigen Menschen hin. Doch gleichzeitig ist Josef sensibel genug, um nachts im Traum die Stimme eines Engels zu vernehmen. Der sagt ihm, er solle seine eigenen Zweifel und Gefühle zurückstellen und Maria zu sich nehmen. Josef hört auf diese Stimme, er "ge-horcht", heiratet die schwangere Maria und gibt dem Sohn Gottes und seiner Mutter ein Zuhause. Auch dies finden wir in vielen Bildern oder Figuren durch die Jahrhunderte hindurch dargestellt: Josef, der die Stimme des Engels vernimmt, Josef, der das Jesuskind auf seinem Arm hält, und auch Josef, der eine symbolische Kirche trägt, das "Zuhause der Gläubigen". Im Jahr 1870, kurz vor dem Beginn des Kulturkampfes, als dieses "Zuhause" der Katholiken bedroht ist, wächst Josefs politische Bedeutung: Er wird von Papst Pius IX. zum Schutzpatron der gesamten katholischen Kirche erklärt. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts steigt Josefs Bedeutung als Schutzpatron der Arbeiter. Es ist die Zeit, in der die Landbevölkerung in die Städte zieht. Arbeiter - und auch Arbeiterinnen - werden gebraucht, um der aufblühenden Industrie und dem Bürgertum mit ihrer Arbeitskraft zu dienen. Die vorhandenen Kirchen werden zu klein, in den Arbeitervorstädten werden neue gegründet. Viele von ihnen sind dem heiligen Josef geweiht, so auch in Stuttgart-Heslach. Josef ist die ideale Leitfigur; kein anderer Heiliger steht den arbeitenden Menschen näher. Doch die Konkurrenz ist groß. Die Sozialisten werben schon Jahrzehnte früher mit ihren politischen Ideen intensiv um die Arbeiter, die sich Rechte und Gerechtigkeit erkämpfen sollen. Mit dem Aufkommen des Kommunismus nach der Novemberrevolution 1918 verschärfte sich die Situation sogar noch. Und danach dauerte es nicht mehr lange, bis auch die Nationalsozialisten ihr Interesse an den Arbeitern mit dem großen "A" im Namen ihrer Partei sichtbar machten. Und die Kirche? Man ist sich bewusst, dass man zu den wachsenden sozialen Fragen Stellung nehmen muss, weil die Lebens- und Arbeitssituation der Menschen in den Städten eine zunehmende Gefahr für den Glauben wird. In den Augen der Kirche ließ das politische Bekenntnis zum Sozialismus und Kommunismus den Menschen keine Möglichkeit mehr, sich in den Dienst der Sache Gottes zu stellen. Außerdem schien durch die Forderungen nach Gleichberechtigung der Frauen auch die Keimzelle der Familie bedroht, da arbeitende Frauen sich nicht mehr um den Aufbau und Zusammenhalt einer Familie kümmerten. Josef, der Beschützer der Heiligen Familie, sollte diesen Gefahren mit dem Beispiel seines Lebens begegnen. Schon vor der Jahrhundertwende, im Jahr 1889, hatte Papst Leo XIII. die Verehrung des heiligen Josef in einer Enzyklika gewürdigt, 1891 hatte er auch die katholischen Arbeitervereine anerkannt. Im Jahr 1937 wurde der heilige Josef von Papst Pius XI. dann zum Schutzheiligen derer erklärt, die den Kommunismus bekämpfen. Nach dem Zweiten Weltkrieg erforderten die ankommenden Flüchtlingsströme Neugründungen weiterer Kirchen. Josef - der Fluchterfahrene - nahm sich auch dieser Menschen an, was sich an der großen Anzahl seiner Patronatskirchen in den 60-er Jahren ablesen lässt.
Josef 21: Die Fragen, die die Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bewegten und auf die der heilige Josef eine beispielhafte Antwort geben sollte, sind nicht bedeutungslos geworden, im Gegenteil. Viele Fragen haben in den vergangenen Jahren an Brisanz noch dazu gewonnen: Wie kann soziale Gerechtigkeit in einer heute globalen Gesellschaft aussehen? Was ist ein gerechter Lohn, für Männer wie für Frauen? Ist das Modell Familie noch zeitgemäß oder hat es bereits ausgedient? Welchen Wert messen wir der Arbeit bei, und welchen Wert hat ein Mensch ohne Arbeit? Was kann, über die Arbeit hinaus, meine Lebensaufgabe sein? Wie höre ich die Stimme des Engels, der mir das mitteilen will? 100 Jahre St. Josef in Heslach: eine Gelegenheit, sich näher mit der Person Josefs zu beschäftigen. Gleichzeitig ist es auch eine Chance, sich mit den spannenden Fragen der Gegenwart auseinanderzusetzen, die gerade dieser Heilige uns in seiner Person bewusst macht.
(Ingrid Felber-Bischof und Wilhelm Bischof)